Wegen des Krieges in der Ukraine sind aktuell Millionen Menschen auf der Flucht.
Heute genau vor 78 Jahren – am 17. März 1944 – mussten auch die Bewohner von Katharinental aus dem Gebiet der heutigen Ukraine flüchten. Sie kehrten nie wieder zurück. Es war also der letzte Tag dieser Kolonie. Mein Großvater, damals 16 Jahre alt, beschreibt die Flucht aus Katharinental so:

„Wir wurden auf die Flucht in Richtung Westen vorbereitet. Es wurde fieberhaft gearbeitet und geplant. Dauernd zog Militär durch unser Dorf. Die deutsche Wehrmacht trat den Rückzug nach Westen an. Der Russische Vormarsch ging sehr schnell voran, die Deutschen haben keinen Widerstand mehr geleistet. Für uns Katharinentaler wurde es immer enger. Es kam die Aufforderung vom Kommandanten der Wehrmacht an die Bürger des Dorfes zur Flucht.

Wir sollten uns alle am 17. März 1944 auf dem Hügel Richtung Speyer versammeln, um die Flucht anzutreten.
[Michael Hörner, als Kind damals auch dabei in Katharinental, schreibt in der Zeitschrift „Volk auf dem Weg“ vom April 2020 auf Seite 36: „Frauen mit Kindern unter acht Jahren und ältere Menschen über 60 Jahre konnten mit der Eisenbahn am 13. März 1944 abtransportiert werden, der Rest am 17. März 1944 mit Pferdegespannen in einem Treck.“]

Es war der Abschied von der Heimat in eine ungewisse Zukunft. Uns traf es doppelt hart. Als Vater am Tag der Flucht in den Pferdestall kam, war das beste Pferd nicht mehr da. Es war in der Nacht von einem deutschen Soldaten gestohlen worden. Das war ein großer Schock für uns, denn wir hatten jetzt nur ein einzelnes Pferd, dass wir an den Wagen spannen konnten. Wir kamen mit der Hilfe anderer Bewohner auf dem Hügel an, auf dem wir uns alle versammeln sollten und warteten auf den Befehl zum Aufbruch.

Ein Foto aus einem Video aus 2006, dass (sehr wahrscheinlich) den Hügel zeigt, auf dem sich damals alle versammeln sollten

Da sahen wir auf der Wiese ein Pferd, das vom deutschen Militär zurückgelassen worden war. Es war am rechten Hinterfuß verletzt, die Verletzung war aber schon gut verheilt. Für uns war dieses Pferd ein Geschenk des Himmels. Wir fingen es ein. Es war in einem guten Zustand, gut genährt. Also spannten wir es an den Wagen – unser Glückpferd. Wir konnten so ohne Probleme mit dem Treck mithalten.

[Aus den Aufzeichnungen des Bundesarchives geht hervor, dass mein Großvater, sein Vater und sein älterer Bruder 78 Tage mit dem Treck von Katharinental nach Wartheland unterwegs waren: vom 17. März bis zum 3. Juni 1944. Michael Hörner bestätigt dies in seinem Artikel (s.o.), er schreibt: „Die Flucht dauerte wochenlang. Kurz vor Budapest, es war bereits Mitte Sommer, wurden den Familien die Wagen und Pferde weggenommen, weiter ging es mit der Bahn bis zum Kreis Altburgund im Wartheland/Polen]

Wir begannen die Flucht mit 2 Pferden und einer Kuh, die uns Milch spendete. Ein Fohlen (1 Jahr alt) haben wir auch mitgenommen. Es war ein sonniger Tag, aber kalt. Wir haben es bis zum Dorf Speyer geschafft. [Heute heißt Speyer Pischani Brid. Das waren ca. 12,8 Kilometer zu Fuß]

Weg von Katharinental nach Speyer, Quelle Google Maps

Dann kam die erste Fluchtnacht. Die Katharinentaler waren die letzten, die die Flucht angetreten hatten. Der Kommandant, der für den Flüchtlingstreck verantwortlich war, organisierte im Voraus die täglichen Übernachtungen in den Orten und auch die Verpflegung. Es klappte alles wunderbar. Wir schafften am Tag ca. 30 Kilometer. Es gab selten Fliegerangriffe von den Russen. Das Wetter war für diese Jahreszeit wechselhaft, kalt, manchmal sehr stürmisch, mit Schneefall. Unser Fuhrwerk-Treck bewegte sich parallel mit dem Rückzug des Militärs. Ein hoffnungsloser Zustand, und das wochenlang.

Zum Glück waren die Einwohner der Dörfer alle bereits auf der Flucht. Dadurch hatten wir keine Probleme, Übernachtungsmöglichkeiten zu finden. Nur das Wetter spielte verrückt. Im Freien zu übernachten war unmöglich. Jeder kleinste Raum in den Häusern und Stallungen war mit mehreren Personen belegt, mit Flüchtlingen und Soldaten.

Unser Fluchtweg führte über Moldavien, Bessarabien, Rumänien und die Karpaten nach Ungarn.

Der Weg zu Fuß ca. 1.236 Kilometer (770 Meilen):
Katharinental (Kateryniwka) → Speyer (Pischanyi Brid) → Moldawien → Karpaten → Budapest

In Ungarn wurde das gesamte Inventar von der deutschen Wehrmacht übernommen. Man versprach uns, „nach dem Sieg des Großdeutschen Reiches“ würden wir alles wieder zurückerhalten. Es wurde alles registriert und schriftlich beglaubigt. Jeder Fuhrwerkbesitzer erhielt ein Dokument.
Wir wurden dann auf die Bahn verladen und fuhren über Niederschlesien und Oberschlesien nach Warthegau in Polen, wo alle Flüchtlinge verteilt und in Unterkünften untergebracht wurden. Teilweise wurden polnische Bürger evakuiert, um Platz für die Russlanddeutschen zu machen. Die Polnische Bevölkerung war darüber natürlich gar nicht erfreut.

Meine Eltern und ich sind in einer Schule untergekommen. 1 Zimmer für 5 Personen, meine Eltern und die drei Kinder (was mein Großvater hier nicht separat erwähnt: seine Mutter und sein jüngerer Bruder Hieronymus junior, geb. 1942, waren bereits am 13. März mit der Bahn nach Wartheland gebracht worden. Sie trafen sich dann alle dort wieder, im Juni 1944).

Auszug aus dem Einbürgerungsantrag meines Urgroßvaters Hieronymus Janzer, mit der Angabe „17.3.44 bis 3.6.44 mit dem Treck unterwegs“

Der Ort hier hieß Hansdorf in der Nähe von Litzmanstadt. In Hansdorf gab es einen großen Gutshof. Hier wurde Gemüse angepflanzt. Das Gemüse wurde jeden Tag marktgerecht gebündelt und sortiert.
Dort haben wir Arbeit bekommen und polnische Bürger arbeiteten mit uns zusammen. Es war wunderbar, mit ihnen zu arbeiten. Wir lernten uns kennen und wurden Freunde.“

Soweit der Bericht meines Großvaters zur Flucht aus Katharinental nach Wartheland. Später ging es dann weiter nach Süddeutschland, wo mein Großvater bis zu seinem Lebensende wohnte.